ingeborg von hantelmann


... aus dem Leben von Ingeborg von Hantelmann

Ingeborg hatte eine Leidenschaft von der einige nichts wussten oder wissen: sie betrieb sehr intensiv Ahnenforschung. Unsere Vorfahren mütterlicherseits stammten aus dem Baltikum und deren Geschichte hat sie in mühevoller Kleinarbeit zusammen getragen. Im Zuge dessen beschäftigte sie sich auch intensiv mit der deutsch-baltischen Geschichte. Ihre Bücher dazu sowie die 35 Leitzordner mit all ihren Nachforschungen wurden mit Dankbarkeit von den deutsch-baltischen Genealogen abgeholt und Erden von ihnen archiviert. Aber auch die von Hantelmanns väterlicherseits, wurden von Ingeborg ausführlich erforscht. Ich habe von ihr viel von meiner Familiengeschichte und auch der Geschichte Deutschlands und der Baltendeutschen gelernt, wesentlich greifbarer und interessanter als in der Schule. Fred wird uns einen Einblick in diese Leidenschaft geben.

Liebe Familie und Verwandte, liebe Freunde und Freundinnen von Ingeborg,

Wir sind heute hier zusammengekommen, um in diesem Kreise nochmal von Ingeborg Abschied zu nehmen. Wir haben sie alle sicherlich auf sehr unterschiedliche Art kennengelernt und erlebt. Und ich gehöre wohl eher zu denen, die Ingeborg am kürzesten kannten, auch wenn es immerhin ziemlich genau 20 Jahre waren. Gleichzeitig aber verband uns eine über 200 jährige Geschichte unserer jeweiligen Vorfahren, in der sich ihre Wege immer wieder kreuzten. Wie bereits gehört, lebten unsere Vorfahren im Baltikum und in Russland. Die Ahnenforschung war für Ingeborg ein umfangreicher und wichtiger Teil ihres Lebens, natürlich neben ihrer Kunst und ihrem beruflichen Leben. Dies gilt auch für mich. Über diese Ahnenforschung haben wir uns auch kennengelernt, und wie es Ingeborgs Wunsch war, möchte ich über dieses uns Verbindende sprechen.

Ingeborg war bereits seit 2001 Mitglied der Deutsch-Baltischen Genealogischen Gesellschaft in Darmstadt. Ich trat ein Jahr später ein und auf der Jahrestagung 2003, also vor fast genau 20 Jahren haben wir uns erstmals getroffen, damals noch sozusagen unbekannterweise, da mir der Name "von Hantelmann" nicht geläufig war.
Im Gespräch stellte sich aber innerhalb von wenigen Minuten heraus, dass wir beide ein Interesse an Vorfahren hatten, die unter den ersten Bürgern der von Katharina der Großen gegründeten Stadt Werro im Süden der zu Russland gehörenden Provinz Estland waren. Und dann fielen auch die jeweiligen Familiennamen "Westberg" von Ingeborgs Seite und "Kordes" von meiner Seite, die uns wechselseitig natürlich bekannt waren, hatte man doch von den Eltern diese Namen immer wieder gehört.

Westberg, der Geburtsname von Ingeborgs Mutter, war mir auch dadurch bereits ein Begriff, dass ich 1990 auf einer Gruppenreise nach Estland zwei Schwestern im Alter meiner Eltern kennengelernt, nämlich Ingeborgs Mutter Else und deren Schwester Gisela.
Und wie es die recht überschaubare Welt der Deutschen im Baltikum so wollte: Ingeborgs Mutter, also die Ur-Ur-Enkelin des Einwanderers Westberg, war in Dorpat, dem heutigen Tartu, die Lehrerin der Ur-Ur-Enkelin des Einwanderers Kordes, nämlich meiner Mutter.

Ingeborg und ich hatten uns in den vergangenen 20 Jahren einige Male persönlich getroffen, zusätzlich aber intensivsten Kontakt telefonisch und per Mail gehabt, wie ich auch jetzt wieder sehen konnte, als ich unsere Korrespondenz durchschaute. Im Laufe dieser Jahre stellten wir fest, dass nicht nur unsere Vorfahren vor über 200 Jahren und unsere beiden Mütter sich kannten, sondern dass es auch in wohl allen anderen Generationen immer wieder Querverbindungen zwischen den beiderseitigen Familien gab. Diese immer wieder entdeckten Kontakte gaben unserer Ahnenforschung auch immer einen Touch von Persönlichem - neben den reinen Jahreszahlen.

Es stellte sich z.B. heraus,
• dass das ursprüngliche Haus der Westbergs in Werro vor 200 Jahren, als sie gestorben oder weggezogen waren, von meinen Vorfahren übernommen wurde.
• Ingeborg fand in ihren Unterlagen Briefe, in denen von meinen Vorfahren die Rede war, die die Briefe von Estland nach St.Petersburg mitnahmen, als die Post noch etwas anders unterwegs war als heute.
• In einer Zwischengeneration gab es Kontakte zwischen beiden Familien, die sich am Veterinärinstitut in Dorpat über den Weg gelaufen sind.
• Schließlich erzählte mir meine Mutter von der Familie Westberg, die sich für die dreimonatige Sommerpause ein kleines Häuschen in einem kleinen Badeort mieteten, wie auch die Familie meiner Mutter. Sie waren also damit kurzzeitige Nachbarn in der Sommerfrische.
• Und last not least: Mein Großvater war Turnlehrer in Dorpat und damit auch der Lehrer von Ingeborgs Mutter. Es gibt ein Bild der Dorpater Turnerjugend, auf dem sie und ihre Schwester direkt neben meinem Großvater stehen und mein Vater zwischen den beiden.

Es gab also zahlreiche Gemeinsamkeiten. Fehlte nur noch, dass wir sogar miteinander verwandt wären, was für baltendeutsche Verhältnisse nicht so unwahrscheinlich wäre. Denn wer Ahnenforschung zu baltendeutschen Familien betreibt, bekommt manchmal den Eindruck, dass letztlich alle miteinander verwandt waren. Das stimmt so natürlich nicht, aber zumindest kannte man sich in der jeweils relativ überschaubaren deutschen Bevölkerung, die selbst in den Städten ziemlich unter sich blieb. Und insofern war man schon eine Art große Familie.
Schließlich konnten Ingeborg und ich uns doch freuen, als sich herausgestellt hatte, dass wir vermutlich tatsächlich verwandt waren. Nach intensiver und akribischer Suche in den Kirchenbüchern des Baltikums fand Ingeborg einen Vorfahren namens Engelbrecht, von dem sie abstammte. Und mit zwei großen Fragezeichen könnte dies auch mein Vorfahre gewesen sein. Durch Generationen-Verschiebungen wäre Ingeborg somit also meine Nichte gewesen – wenn auch 10. Grades oder so!

Ingeborg war sehr daran interessiert, hinter die reinen Fakten und Daten der Ahnenforschung zu schauen und alles mit Leben zu füllen. Von Bedeutung war für sie z.B. auch, wie das Verhältnis der Deutschen zu den Esten war. Die Deutschen waren ja die Oberschicht im Baltikum, die Esten - bei weitem die absolute Mehrheit der Bevölkerung - waren bis ins 19. Jahrhundert hinein Leibeigene oder niedrigen Standes. Ingeborg freute sich immer wieder, wenn sie in Kirchenbüchern Taufeinträge von estnischen Kindern fand, bei denen Westbergs oder Hermanns Paten waren, zeigte dies doch, dass die nationale Trennung in ihrer Familie nicht immer so strikt war und man sich offenbar gegenseitig schätzte.
Auch die sozialen Aspekte und damit verbunden eine große Mobilität im Baltikum waren für Ingeborg von großem Interesse, betraf dies doch auch ihre eigenen Vorfahren:
Abgesehen vom baltischen Adel, der eine bedeutende Rolle im russischen Militär spielte und daher entsprechend zahlreich in St.Petersburg oder dem sonstigen Russischen Reich lebte, gab es in sehr vielen typischen baltendeutschen Familien einen sozialen Aufstieg aus dem Handwerkerstand in den Akademikerstand. Und für die meist in Dorpat ausgebildeten Ärzte, Pastore oder Apotheker usw. gab es häufig Job-Angebote im weiträumigen Russischen Reich, auch in St.Petersburg oder in Moskau und schließlich in allen russischen Gouvernements. Und so fallen auch in Ingeborgs Familiengeschichte die Namen von Orten im Russischen Reich, die heute in einem sehr traurigen Zusammenhang wieder auftauchen – im Zusammenhang mit dem unsäglichen Krieg gegen die Ukraine. Ingeborg hatte im vergangenen Jahr natürlich mit ihrem eigenen Schicksal zu kämpfen. Dieser Krieg in der Ukraine machte sie aber doch sehr betroffen, wohl aus der familiären Geschichte heraus, aber wohl auch aus Gründen der deutschen Vergangenheit. Wie die meisten unter uns gehörte sie zu der Generation, die aufgrund unserer Geschichte ein friedliches Miteinander wollte. Und seit über 70 Jahren war dies auch in Europa ziemlich gut gelungen. Und jetzt plötzlich ist das Undenkbare wieder Realität geworden!

Abschließend möchte ich meinen Eindruck wiedergeben, dass ich glaube, dass Ingeborg trotz dieses intensiven Blicks in die Vergangenheit ihrer Familie und damit in die Vergangenheit des Baltikums doch im "Hier und Heute" gelebt hat, was man sicherlich daran sehen kann, wieviele Kontakte sie hier in Bremen hatte und wie sie an politischen Entwicklungen in Deutschland teilnahm. Auch darüber haben wir uns immer wieder viel unterhalten.

Wenn uns ein Menschen im Diesseits verlässt, ist es für uns immer ein Verlust - leider für immer. Die Trauer darüber ist manchmal sehr schwer zu ertragen, für die Familie, für die Freunde. Man versucht Trost zu finden, was häufig aber schwierig ist und Zeit braucht. Möglicherweise können wir Trost finden in den Erinnerungen an Gemeinsamkeiten.
Möge dies allen von uns gut gelingen!

Fred Engelbrecht